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  • riffellotti

Das Bild des Anderen

Langsam dringen die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch den dichten Stoff der schweren Vorhänge, die die Fenster über meinem Bett verdecken. Von den warm leuchtenden Fäden des Lichtes berührt, räkle ich mich, strecke Arme und Beine weit voneinander und begrüße den neuen Tag. Mit frischem Elan und Vorfreude auf das, was innerhalb der nächsten 24 Stunden auf mich zukommen mag, schwinge ich die Beine über die Bettkante, stehe auf und werfe einen verschlafenen Blick auf mein schlafanzugtragendes Gegenüber im Spiegelbild, welches unmittelbar von den nun über mich einprasselnden Gedanken begutachtet wird. „Na, die Augenringe sahen aber auch schon mal besser aus“, kommentiert meine innere Stimme. „Hättste gestern mal lieber Sonnencreme benutzt, dann sähst du jetzt nicht aus wie ein Clown“, folgt darauf der zweite Kommentar. „Jetzt mach´ mal halblang und werde erstmal richtig wach“, gesellt sich ein dritter, etwas freundlicherer Gedanke dazu, als ich bemerke, dass mein Zimmer unbedingt mal wieder einen Staubsauger zu Gesicht bekommen sollte.

In etwa so beginnt manch neuer Tag: umgeben von Gedanken, subjektiver Wahrnehmung und Plänen, über den aktuellen Tagesablauf, Aufgaben und zu bewältigende Herausforderungen. All das passiert binnen kürzester Zeit in unserem Kopf, ohne dass es unsere Mitmenschen bemerken. Während wir selbst unserer Morgenroutine folgen und beginnen einzelne Punkte auf der täglichen To-Do-Liste abzuhaken, tun es uns unsere Mitmenschen gleich - egal ob Familienmitglieder, Freunde, Bekannte oder Fremde auf der ganzen Welt. Jeder folgt dem tickenden Sekundenzeiger, der die Minuten unseres Alltags verstreichen lässt und Erlebtes, Stück für Stück, Richtung Vergangenheit schiebt.

Nun ist es also so, dass wir uns alle im eigenen Tunnel der Gedanken, des Blickes und der Wahrnehmung befinden und nur aus ihm herauslugen, wenn wir in den Austausch mit anderen Menschen gehen. So wird es uns ermöglicht, andere Wahrnehmungen kennenzulernen und möglicherweise sogar ein bisschen zu verstehen. Offensichtlich ist, dass wir sie definitiv nicht selbst in genau dieser Form erfahren können, da wir schließlich nur unseren eigenen Blickwinkel kennen und erleben können.

Die logische Schlussfolgerung aus dem bisher Geschriebenen wäre also zu behaupten, dass wir uns kein ganzheitliches, objektives Meinungsbild von anderen Menschen bilden können, denn egal wie gut und lange wir einen Menschen kennen, sind und bleiben es lediglich Ausschnitte der Wirklichkeit und unserer Wahrnehmung. Wir erfahren nicht die Gedanken, Erlebnisse oder Tagesform abhängige Stimmungslage des anderen und haben als Vervollständigungshilfe für unser Bild, das sich unumgänglich in unserem Kopf zusammensetzt, lediglich subjektive Auffassung und persönliche Interpretation.

Geht man einen Schritt weiter, lässt sich durchaus behaupten, dass es geradezu unmöglich ist, „gerecht“ über einen Menschen zu urteilen, ohne die, auf ihn wirkenden, Einflüsse mit einzubeziehen und ohne ein objektives Bild zu besitzen. Trotzdem tun wir es täglich. Wir verteilen Likes, auf ein besonders gelungenes Urlaubsbild eines Influencers, der dafür teilweise Unmengen an Geld verdient, wir swipen nach links oder rechts, wenn wir jemanden als attraktiv oder eben unattraktiv ansehen und wir werten über Aussehen, Verhalten und Leistung. Mit Sicherheit können sich die Wenigsten davon freisprechen zu urteilen - vielleicht kann es niemand. Das ist in Ordnung und menschlich. Wichtig ist jedoch, dass es bemerkt, reflektiert wird und vielleicht auch mal geändert wird, es ist nie falsch einen Fehler zuzugeben oder seine Meinung zu ändern. Höchstens mutig und birgt mit Sicherheit die ein oder andere Überraschung. So wandert der rote Faden der Morgenroutine vom Ankommen in der Welt, über den Blick nach innen und die Beobachtung von sich selbst, wie im Spiegelbild, zum Bild des Anderen.

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