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  • riffellotti

Systemfehler


„Zwanzig Jahr´ ohne Haar.“ – Was würde Udo Jürgens bloß zu solch einer Aussage meinen? Um unvermittelt zur hier essentiellen Thematik zu gelangen, möchte ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Paula, ich bin 20 Jahre alt und wie es fast schon zu erwarten war: eine junge Frau ohne Haare. Besser gesagt, eine nach außen vermittelnde Person mit entweder nationalsozialistischem Motiv, Chemotherapie, radikalem Feminismus, pubertärer Phase, Haarausfall, Wettschulden oder Modelbackground. Entscheidend ist hierbei jedoch, dass es auffällig ist, dass ich keine Haare habe; dass ich der Öffentlichkeit einen nackten Hinterkopf präsentiere und darauf täglich angesprochen werde. Es ist für mich nachvollziehbar, dass es ein ungewöhnliches Erscheinungsbild abgibt und dementsprechend als herausstechend bezeichnet werden kann, trotzdem liegt meiner Meinung nach der Fehler an einer anderen Stelle. Wie kann es sein, dass es bei Männern als attraktiv, als normal und männlich angesehen wird, wenn diese eine Glatze tragen und es bei Frauen üblich ist, dass sie mindestens drei verschiedene Haarprodukte verwenden, um ihre langen Haare zu pflegen? Wieso muss ich mich als Frau dafür rechtfertigen und einen bestimmten Grund nennen, wenn ich eine Glatze trage? Seit wann ist es normativ, Weiblichkeit mittels eines langen Hornfadens, der auf der Haut von Säugetieren wächst, zu definieren, beziehungsweise weibliches Aussehen darauf geradezu zu beschränken? Letztlich sind es nur Haare, aber der entscheidende Punkt liegt an einer anderen Stelle. Setzen wir die Haare den Begriffen Oberflächlichkeit, Meinungsbild und klassifizierter Denkweise gleich, öffnet sich unmittelbar ein neues Feld. Wir leben in unserer Alltagsseifenblase, mit vorgefertigten Meinungen, bei der ein Ausbruch aus unserem gewohnten Bild direkt einer Rechtfertigung bedarf oder anderenfalls ein großer roter Stempel aufgedrückt wird und ich muss hierbei ehrlicherweise sagen: Ich kann die Frage „Wieso hast du keine Haare?“ nicht mehr hören. Kann es nicht einfach offensichtliche Tatsache sein, für die ich keinen außergewöhnlichen Grund brauche? Ich habe mir diese Situation nicht ausgesucht und möchte mir nicht tagtäglich überlegen, ob ich heute mit frecher Schlagfertigkeit oder angepasster Höflichkeit reagiere. Ich wünsche mir einfach einen kleinen Ausbruch aus der Gewohnheit und etwas mehr Offenheit oder Verständnis.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.




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